Ich bin ein überaufmerksamer Leser; mir fallen viele Dinge auf, über die andere wieder und wieder hinwegsehen. Speziell für Ungereimtheiten habe ich ein gutes Auge
Was den Rest angeht: Sehr unwahrscheinlich! Ich kann mir beileibe nicht vorstellen, dass Temeraire einfach unter Zeugungsschwierigkeiten leidet, nicht bei den vielen Weibchen, die er begattet hat und die allesamt nicht trächtig wurden. Ja, es stimmt, dass es manchmal etwas länger dauert, aber nicht bei der Anzahl an Variationen, die Temeraire im Zuchtgehege geboten wurde. Überdies verändert sich die Zeugungsrate beim Manne auch, je nach Gefühslage und gesundheitlicher Verfassung sowie der Ernsthaftigkeit beim Verkehr - darauf möchte ich hier allerdings nicht näher eingehen.
Ich versuche nun, die verschiedenen Erklärungsmöglichkeiten aufzuzählen:
1. Temeraire ist ganz und gar zeugungsunfähig
Es ist möglich, dass Temeraire - wie das auch bei anderen großen und langlebigen Tierarten der Fall ist - entweder nur sehr schlecht fruchtbar ist ODER aber aus unerfindlichen Gründen gar nicht fruchtbar, d.h. die Fähigkeit zur Zeugung nie entwickelt hat. Dies halte ich zwar für unwahrscheinlich, aber dennoch nicht ausgeschlossen, vielleicht infolge einer erblichen Veranlagung oder auch infolge der Infektion mit der Seuche - einige Krankheiten können bei manchen Tieren zu einer Zeugungsunfähigkeit führen. Oder aber, die Chinesen beherrschen die Technik, Tiere noch im Ei unfruchtbar zu machen. Ich gehe davon aus, dass sie von vornherein vor hatten, Temeraires Ei zu versenden. Damit dieser nicht hunderte Bastarde in die Welt setzt und das Kaiserliche Blut verschlammt, wurde er sterilisiert. Halte ich allerdings für eher unwahrscheinlich... Es gab damals zwar Kastrationen, aber nur bei schon vorhandenen Tieren. Ein Tier im Ei unfruchtbar zu machen, ginge vermutlich nur durch Bestrahlung und wäre selbst heute schwierig...
2. Temeraire ist noch nicht geschlechtsreif
Es kann durchaus sein, dass Himmelsdrachen erst mit, sagen wir, fünf Jahren geschlechtsreif werden und Temeraire somit zwar eine Art "Pseudosperma" entwickelt, die Spermien aber nicht lebensfähig bzw. unbeweglich sind und somit zu keiner Befruchtung führen.
3. Temeraire macht etwas verkehrt
Ja, auch das ist möglich; Temeraire hat die falsche "Eindringmethode". Ich nehme an, dass bei Drachen die Organe der Ausscheidung und der Geburtskanal ein und denselben Eingang haben (was bei Reptilien durchaus der Fall sein kann). Vielleicht ejakuliert Temeraire aufgrund seiner Unerfahrenheit einfach in die "falsche Richtung".
Dennoch ist meine Hypothese eine gänzlich andere.
Was ich vermute, lässt sich unter einem Stichwort zusammenfassen: Evolution. Laut Neodarwinismus gibt es vier grundlegende Faktoren, die die Heterogenität des Erbgutes gewährleisten: Mutation, Selektion, Rekombination und Isolation. Soviel zur Theorie. Letzteres ist für meine These bedeutend.
Offenbar lebten die chinesischen Drachen seit tausenden von Jahren in China. In Band 2 heißt es, die Chinesen seien gut tausend Jahre, ehe die Römer anfingen, erste Drachen zu zähmen und zu züchten, Meister dieser Kunst gewesen. Das allein ist schon ein Grund, ins Grübeln zu kommen. Noch dazu wird keinem chinesischen Drachen gewährt, China zu verlassen und sich den westlichen Mächten auch nur zu zeigen, nicht einmal den "geringeren" Rassen. Desweiteren unterscheiden sich Himmelsdrachen von allen anderen Drachenrassen der Welt: Sie haben fünf Klauen an den Füßen und auch eine andere Anzahl an Flügelgliedern (was in der Geschichte verankert ist; die heiligen chinesischen Drachen auf den Gewändern der Kaiserfamilie hatten fünf anstelle von vier Krallen. Es war bei Todesstrafe verboten, einen fünfkralligen Drachen auf gewöhnlichen Kleidungsstücken darzustellen, da diese nur der Kaiserlichen Familie vorbehalten waren, nur als Info nebenbei ). Angesichts dieses Umstandes und der Jahrtausende anhaltenden Isolation einerseits durch die Politik des Ostens, andererseits durch die geografische Ausdehnung des Himalayas, kann man eigentlich von nichts anderem ausgehen, als dass nie Fremblutvermischung mit westlichen Drachen stattgefunden hat.
Mit anderen Worten also: Die östlichen Drachenrassen waren über eine enorme Zeitspanne von den westlichen Drachenrassen isoliert und konnten sich nicht miteinander verpaaren. Dadurch hat sich ihr Genom eigenständig so in eine andere Richtung verändert und manifestiert, dass die genetische Kluft zu groß wurde. Die beiden Genpole sind nicht mehr miteinander kompatibel. Es ist mit Temeraire und einem westlichen Drachen in etwa so, als wolle man eine Giraffe mit einem Elefanten kreuzen. Er könnte im Grunde genommen nicht einfach nur eine andere Drachenrasse sein, sondern sogar eine völlig andere Art. Daher könnte er sich mit keinem Drachen westlich des Himalayas paaren, sondern nur mit einem anderen Himmels- oder eben Kaiserdrachen bzw. einer chinesischen Rasse.
Auch darf man nicht übersehen, dass die Himmeldrachen nur eine "Laune der Natur" zu sein scheinen. Es sind mutierte Kaiserdrachen, deswegen gibt es auch nur so wenige, die alle von einem Stamm ausgehen. Unter diesen Umständen häuft sich natürlich die Wahrscheinlichkeit von Erbkrankheiten und Unfruchtbarkeit; Himmeldrachen scheinen selten mehr als ein Ei zu legen. Lung Tien Lien ist das beste Beispiel dafür: Albinismus ist erblich bedingt. Daher wäre es auch nicht verwunderlich, wenn Temeraires Kinder Albinos wären; da es nur einen Stamm gibt, bleiben solche Anlagen höchstwahrscheinlich in der Familie erhalten. Da es (wie ich anhand der extremen Seltenheit vermute) rezessiv vererbt wird, ist allerdings die Wahrscheinlichkeit dazu relativ gering.