Ich wuste nicht, ob es wirklich okay war, seine Wohnung zu betreten. Aber Mrs. Hudson hatte mir versichtert, es wäre in Ordnung. Also lief ich langsam die Treppen hoch, zu der Wohnung, in der mein Bruder mit ihm gewohnt hatte.


"Hallo? Ist jemand hier? Mr. Holmes?" Vorsichtig warf ich einen Blick in die Küche und entdeckte einige kleinere und mehrere große Glasbehälter auf dem Tisch.
John hatte mir davon erzählt. Er hatte gesagt, Sherlock bräuchte diese Dinge für seine Expermimente. Was auch immer das bedeuten mochte. Harriett hatte nicht weiter danach gefragt. Sie betrat die Küche, seufzte und schüttelte den Kopf. "Das ist doch lächerlich!" murmelte sie und drehte sich um, um den Raum zu verlassen.


"Harriett Watson, nehme ich an." Ich zuckte erschrocken zusammen, fuhr herum und stand eine Armlänge von Sherlock entfernt. Er musterte mich kurz, wandte sich von mir ab und ging zu einem der beiden großen Fenster. Ich räusperte mich und betrat das Wohnzimmer.


"Sie wissen wahrscheinlich, warum ich hier bin, nichtwahr? " sagte ich und unterbrach damit die Stille, die sich im Raum ausgebreitet hatte. Sherlock schwieg und verschänkte die Arme hinter seinem Rücken.


"Ich habe Sie bei der Beerdigung gesehen." fuhr ich fort und schluckte kurz, als ich daran dachte. Sherlock drehte sich um und sah mich an. "Wenn Sie gekommen sind, um mit mir über ihn zu sprechen, muss ich Sie höflichst bitten, wieder zu gehen. Im Gegensatz zu den meisten Menschen bevorzuge ich die Einsamkeit."
"Ja." erwiederte ich. "Ich will über meinen Bruder sprechen. Darüber, wie er... uns verlassen hat. Und darüber, wie er von Ihnen sprach, wenn wir uns getroffen haben. " Sherlock hob eine Augenbraue. "Wie hat er denn über mich gesprochen?" fragte er und tat so, als ob es ihn nicht interessieren würde. Ohne ihn zu fragen, zog ich meinen Mantel aus und legte ihn auf einen Stuhl, der hinter mir in der Küche stand.


"Du hast ihn geliebt, nicht wahr?" sagte ich leise, während ich ihm den Rücken zuwandte. Es kostete mich mehr als nur ein bisschen Disziplin, um nicht in Tränen auszubrechen. Sherlock sagte nichts, aber ich spürte, dass ich Recht hatte. Ich sprach weiter und in diesem Moment war mir Sherlock's Reaktion völlig gleichgültig.


"Immer wenn wir über Dich sprachen, hat er gelächelt. Er war so unglaublich glücklich, wenn er mir etwas über Dich erzählt hat. Kurz vor... Kurz bevor er ging, haben wir uns getroffen." Ich hielt inne und drehte mich zu ihm um. Traurig lächelnd fuhr ich fort. "Er hat nichts so sehr geliebt wie Dich, Sherlock. Nicht einmal seine Arbeit war ihm wichtiger."


Sherlock nickte langsam. Seine Stimme war jetzt kaum mehr als ein Flüstern. "Ich weis das alles, Harry. Und es bricht mir das Herz, zu wissen, das er nie wieder durch diese Tür kommen wird. Das er nie wieder mit mir diskutieren wird, wenn wir einen Fall haben..." Sherlock zuckte zusammen. "Wir werden nie wieder zusammen ermitteln..." Er schwieg entsetzt und starrte eine Weile ins Leere.


"Sherlock? Bist du in Ordnung?" Besorgt legte ich eine Hand auf Sherlock's Arm. Er schüttelte stumm den Kopf, setzte sich n seinen Sessel und mit einem Mal wirkte er sehr klein. Mir kamen die Tränen und ich kniete mich vor ihm auf den Boden, nahm seine Hand und drückte sie. Sherlock sah mich an. In seinem Blick lag eine Mischung aus Trauer und Verzweiflung.


Es klopfte leise. Lestrade stand in der Tür und erschrak, als er sah, in welcher Verfassung Sherlock war. "Geht es ihm gut?" fragte er mich, als ich zu ihm ging. Ich schüttelte den Kopf. "Ich mache ihm jetzt eine Tasse Tee und bringe ihn in sein Bett." Lestrade nickte zustimmend. Er verabschiedete sich leise, drehte sich ium und ging die Treppe hinunter. An der Haustür drehte er sich noch einmal um. "Kümmern Sie sich gut um ihn." sagte er und der besorgte Unterton in seiner Stimme war nicht zu überhören. Ich nickte und sah ihm kurz hinterher.


"Harry?" Sherlock war aufgestanden und taumelte leicht. Er stützte sich mit einer Hand am Kamin ab und sah zu mir hinüber. Ich lief zu ihm und sützte ihn, während wir in sein Schlafzimmer gingen. Er lies sich auf sein Bett fallen und nachdem ich mich versichtert hatte, dass er nicht von seinem Bett fallen würde, ging ich in die Küche und kochte eine Kanne Tee.


In den folgenden zwei Wochen wohnte ich bei Sherlock. Er verlies nicht einen Moment lang sein Bett und nur Mrs Hudson und ich durften sein Schlafzimmer betreten. Lestrade und Sherlock's Bruder Mycroft waren regelmäßig zu Besuch, um zu sehen, wie es ihm ging, aber sie durften sein Zimmer nie betreten.
Eines abends saß ich in der Küche und las einen Artikel in der Zeitung, als ich ein Geräusch hörte. Ich hob den Kopf und entdeckte Sherlock im Wohnzimmer. Er stützte sich auf die Kante des Holztisches und war etwas außer Atem. "Sherlock? Was ist los?" fragte ich, gleichzeitig überrascht und besorgt, denn er war sehr blass.


Sherlock antwortete nicht, lies stattdessen die Tischkante los und lief langsam zu seinem Sessel. "Bringst du mir bitte eine Tasse Tee, Harry?" fragte er tonlos und zog seine Beine an seinen Körper heran. Ich nickte, machte den Tee fertig und gab Sherlock die Tasse. Dann setzte ich mich auf den Sessel gegenüber von ihm. Ich wusste, das das John's Sessel gewesen war, aber jetzt grade war es einfach nur irgendein Sessel in irgendeinem Wohnzimmer.


Wir saßen ein paar Minuten schweigend da, als Mrs Hudson mit zwei Tüten herein kam. "Sherlock, Liebling! Sieh' dich an, wie dünn du geworden bist!" bemerkte sie bestürtzt, als sie ihn erblickte. Sie stellte die Tüten auf den Küchentisch, auf dem jetzt keine Glasbehälter mehr standen. Sherlock saß noch immer in seinem Sessel und umklammerte seine Teetasse, als wäre sie ein Rettungsring und er ein Mann in Seenot.


Einen Moment herrschte wieder Stille. Dann sagte Sherlock mit leicht kratziger Stimme: "Das liegt nur daran, dass ich lange nichts mehr von Ihrem Essen hatte.." Das erste mal seit Tagen lächelte er, aber in diesem Lächeln lag immernoch eine Spur von Trauer. Mrs Hudson sah ihn an und ich entdeckte eine kleine Träne, die ihre Wange herunter rollte. Zu meiner Überraschung stand Sherlock langsam auf, stellte seine Tasse auf den Tisch und ging zu Mrs Hudson.


Sie sah zu ihm auf und weinte jetzt richtig. Sherlock lächelte müde und drückte sie an sich. Beiden standen eine Weile mitten im Raum. Dann löste er sich aus der Umarmung, sah sich zu mir um und nickte mir zu. Ich lächelte und sagte leise: "Gern geschehen, Mr Holmes."