Name: Oliver Williams/Frank Schneiderholm
Zugehörigkeit: freier Charakter/Insasse der „Asylum“
Rasse: Mensch
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Die Schritte eines einzelnen Mannes waren das einzige, die diesen Abschnitt des Zellentraktes mit Leben füllten. Wie ein einsames Glühwürmchen kämpfte das Licht des Streichholzes gegen die übermächtige Dunkelheit an, durch die diese Gestalt alleine ging und sich dabei immer wieder umsah. Nicht hektisch oder nervös, sondern eher neugierig und nach etwas bestimmten suchend. Wie ein Forscher, der ein Archiv auf der Suche nach Antworten durchwühlte, einzig und allein geleitet von dieser kleinen Funzel in seiner Hand, die kaum genug Licht spendete, um die eigenen Stiefel zu sehen. Dann, als ob ihn eine Eingebung gepackt hätte, blieb er stehen. Er wusste, dass er auf dem richtigen Weg war. Woher? Ungewiss, doch daran verschwendete er auch keinen Gedanken. Er hob vielmehr das Streichholz an und starrte auf das, was sich vor ihm auftat: eine gigantische Türe, die einen Durchmesser von mindestens eineinhalb Manneshöhen hatte und die ein einziges Zeichen zeigte, das mit einer nicht näher spezifizierten Flüssigkeit darauf geschmiert worden war: Theta, der achte Buchstabe des griechischen Alphabets. Als er sie über das beinahe zerstörte Terminal öffnete, tat sich dahinter ein sehr kleiner Korridor auf, der vielleicht ein Dutzend Zellen beinhaltete. Sie alle waren leer und der Boden, sowie die Wände waren blutverschmiert oder mit irgendwelchen wirren Phrasen verziert, doch Leichen waren keine zu sehen. Als er den ersten Schritt über die Schwelle tat und die Stiefelabsätze geräuschvoll auf das Metall trafen, durchzuckte ein einzelner Puls den Raum und es war, als ob sich etwas darin regte. Ein Geräusch erklang, so kurz und unbestimmt, dass er keinen Ursprung dafür vor seinem inneren Auge finden konnte. Ihm lief ein Schauer den Rücken hinunter, den er so noch nie gespürt hatte. Ihm war, als ob die Temperatur in diesem Raum wesentlich kühler war, als draußen und die Luft auch anders zusammengesetzt war. Sie fühlte sich… leerer an. Ihr fehlte der Charakter von Schweiß, von Speichel, von Lärm, von Hitze, kurz von Leben, den es im Rest des Schiffes und vor allem im Zellentrakt davor dank des revolutionären Chaos gegeben hatte. Hier, in diesem Abschnitt war es fast so, als ob sämtliches Leben entrissen wurde. Als ob Gevatter Tod selbst hier am Werke gewesen wäre und diese Kälte die Überreste seines Wirkens waren.
Zögerlich und nachdem er den Ersteindruck des Raumes auf sich wirken gelassen hatte, betrat der Mann auch mit dem zweiten Fuß den Raum und sah sich um. Die Zellentüren waren alle entriegelt, die meisten sperrangelweit offen, ein paar gerade so weit geöffnet, um die dahinter hausende Gestalt in die süße Freiheit entlassen zu können. Sie alle waren völlig dunkel – alle, bis auf jene, die direkt gegenüber der Eingangstür lag und deren Tür nur einen Spalt breit offen war, um gerade so einen einzelnen Lichtstrahl hinaus in den Korridor zu schicken. Langsam und vorsichtig bewegte er sich auf das Licht zu. Der Raum war so gespenstisch still und doch lag da etwas in der Luft. Eine Art Hintergrundrauschen, das sich anhörte wie leises Geflüster tausender Stimmen, doch es war so Leise, dass es auch nur eine Vermutung sein könnte; ein Trick seines wirren und müden Geistes, um mit der vertrauten Fremde des Raumes fertig zu werden. Das Rauschen wurde mit jedem Schritt lauter, den er näher zu der geöffneten Tür kam. Es wurde immer unerträglicher, bis ihm schließlich der Schweiß auf der Stirn stand und er sich mit einer Hand die pochende Schläfe hielt. Sein Kopf dröhnte, doch er ging weiter. In Armreichweite zur Tür war es schließlich so grauenhaft, so verstörend, dass er nicht mehr klar sehen konnte und es ihm so vorkam, als ob seine Augen hinter einem diffusen Schleier aus dunklen Rauchschwaden verhüllt waren. Er stolperte und hielt sich gerade noch an der Türe fest, um einen unangenehmen Sturz zu verhindern. In jenem Moment, als seine Hand den kalten Stahl berührte, verschwand das Rauschen im Zuge eines einzigen Wimpernschlags und verwirrt richtete sich der gebeugte Mann wieder auf. Wo war er?
Er zog an der Tür, die sich mit einem lauten Quietschen öffnen ließ und dahinter kam ein gänzlich weißer Raum zum Vorschein, dessen Sauberkeit keinen deutlicheren Kontrast zum Rest des Schiffes bilden konnte. Sie war gänzlich leer und in ihr stand nur eine einzelne Person. Es war das mysteriöse Mädchen, das der Mann bereits einmal getroffen hatte. Ihr Haar trug sie nun offen, sodass es in langen Strähnen an ihr herabfiel. Endlich hatte er sie gefunden. Obwohl er nicht wusste, wer sie war oder wie sie hieß, so huschte ein Lächeln über seine Lippen; unterbewusst und auch ein klein wenig zu seiner Verwunderung, wieso er ob ihres Anblicks so reagierte. Diesen Vorgang schien sie auch in seinem Gesicht deuten zu können und so kam es, dass ihr Lächeln zu einem nicht unbedeutenden Teil durch Trauer und vielleicht sogar so etwas wie Enttäuschung getrübt wurde.
„Du bist gekommen“, sagte sie leise, die Arme vor der Brust verschränkt.
„Ich hatte keine Wahl“, erwiderte der Mann, doch warum er genau das sagte, wusste er nicht so genau. Es kam ihm vor, als ob er eigentlich etwas anderes hätte sagen sollen, wie ein Schauspieler, der den falschen Text gelernt hatte.
„Ich hatte Angst, du würdest mich nicht finden. Ich hatte Angst, er wäre schon zu tief in deinem Kopf drinnen.“
„Was redest du da?“
Sie seufzte und drehte sich zu der Wand hinter ihr um. Ein paar Wörter waren darauf geschrieben, sowie zwei Zeichnungen. Waren sie schon die ganze Zeit dort gewesen?
„Es ist also schon schlimmer, als ich gedacht hatte“, flüsterte sie und betrachtete das Gekritzel an der Wand nachdenklich, ehe sie sich wieder umdrehte, „aber ich bin mir sicher wir kriegen dich wieder ganz.“
Sie lächelte. Er zuckte. Ihr Lächeln versteinerte sich und erstarb dann. Während sie die Stirn runzelte und sich fragte, was los sei, überkam es ihn für einen Moment. Es war ein kurzer Moment, aber er war da. Für den Bruchteil einer Sekunde hielt er ihn in den Händen, wie einen glitschigen Fisch, der sich regte und wehrte gegen den Fischer, bevor er seinem Griff wieder entkam und zurückfand in die rettende See. Ein Lichtblitz tat sich auf und Gelächter war zu hören. Nur kurz und gerade so laut, dass man den Swing, der das Gelächter begleitete, hören konnte. Zögerlich griff er in die Innentasche seiner Jacke und holte etwas hervor, worauf er seit seiner Verwundung stets mit einer nachdenklichen Melancholie gestarrt hatte. Es war das Foto. Er betrachtete es jetzt genauer und aus einem anderen Blickwinkel. Die Frau vor ihm erkannte er als eine der Personen darauf. Verwirrt blickte er auf und als sie das Foto ebenfalls erkannte, lächelte sie, kam näher und strich für einen Moment nachdenklich darüber.
„Du hast es also noch behalten… schön.“
„Wer bist du?“, fragte er verwirrt, doch sie fand als Antwort nur ein tröstendes Lächeln, das nicht mehr war, als eine Änderung der Mundwinkel.
„Das kannst du nur alleine herausfinden“, erwiderte sie, „ich kann dir die Richtung nur deuten. Gehen musst du selbst.“
Er sah sie verwirrt an und verlor sich dabei in ihren Augen, die ihn wie schon zuvor in den Bann zogen. Als ob er die Antwort auf seine Fragen in ihnen finden würde, doch so kam es leider nicht. Ihm fiel vielmehr das Gekritzel an der Wand hinter ihr auf.
„Was meintest du damit, als du sagtest, er sei schon zu tief in meinem Kopf? Wer soll das sein?“
„Du weiß, wen ich meine. Es ist Er, dessen Namen wir nicht aussprechen wollen. Nicht mehr, nachdem er uns das angetan hat.“
„Ich verstehe nicht.“
„Ich weiß. Das will Er auch. Aber du wirst bald verstehen. Ich weiß es. Ich vertraue dir. Wie ich dir schon immer vertraut habe.“
Der Mann grübelte einen Moment. Sie konnte nur den Doktor meinen und er wühlte in seinem Gedächtnis nach Dingen, die er getan haben könnte. Natürlich, die Gespräche mit ihm waren anstrengend und meist war er dabei nicht er selbst, doch war niemals Gewalt im Spiel gewesen. Hatte er ihm etwas verheimlicht? Sofort begann er ihn zu hassen und zu misstrauen. Er hatte ihn getäuscht und vermutlich noch ganz andere Dinge. Er musste ihn finden, diesen Xavier. Plötzlich tat es einen Knall und der ganze Raum bebte. Ein ohrenbetäubendes Brummen erklang und der Mann ging in die Knie, stöhnend und schreiend.
„Du musst aufhören!“, schrie das Mädchen, „denke Ihn nicht mehr!“
Doch das Brummen wollte nicht aufhören. Es kam in Schüben, immer und immer wieder. Ein Halbtakt des Schmerzes. Nach einigen Momenten legte sich der Schmerz wieder, doch gerade so viel, dass er wieder klar denken konnte und ihre Worte verstand, ohne dass ihr Geschrei dazu notwendig war. Das Pulsieren seines Hinterkopfes, dort wo die hässliche Narbe war, vernebelte dennoch seine Gedanken und sie schnalzte mit der Zunge.
„Dafür wird Er büßen. Wir werden dafür sorgen. Doch du musst jetzt gehen.“
Er wollte sie gerade fragen, weshalb, als eine Detonation alles erschütterte und mit ihr auch das rhythmische Brummen wieder kam. Ein erstickter Schrei entkam seiner Kehle.
„Geh jetzt wieder zurück und denke immer daran, wenn du unten bist: du musst mich finden. Hörst du? Finde. Mich. Alles andere ist unwichtig.“
„Komm… mit mir“, brach es aus ihm heraus, als er es geschafft hatte, sich aufzurichten, doch sie schüttelte nur sanft den Kopf.
„Ich nehme einen anderen Weg nach unten“, sagte sie, „aber ein Teil von mir ist immer bei dir, vergiss das niemals.“
Er schüttelte den Kopf und brabbelte zwischen den vor Schmerz zusammen gekniffenen Zähnen etwas hervor, das sich so anhörte, als ob er sie von diesem Ort nicht alleine gehen lassen würde. Sie lächelte wieder so zauberhaft und gutmütig, wie sie es immer tat, wenn sie mit ihm sprach und merkte, dass er mehr im Dunkeln tappte als sie das offensichtlich tat. Sanft lehnte sie sich nach einem Moment nach vorne, sodass ihre Lippen direkt neben seinem Ohr lagen und sein Blick wieder auf die Wand freigelegt war, auf der nunmehr zwei einzelne Worte standen.
„Ave Maria.“
Quasi unmittelbar, nachdem sie diese Worte ausgesprochen hatte, erschütterte es erneut das Schiff und es schleuderte ihn rabiat umher, als ob er einen kräftigen Haken kassiert hatte, sodass er auf die Knie fiel und sich mit den Händen auf dem Boden abstützen musste. Keuchend nach Luft ringend sog er die Luft des Zellentraktes ein. Nach ein paar Augenblicken hatte er sich gefangen und festgestellt, dass er sich nicht mehr in der Zelle befand, sondern in dem Korridor davor, die große Theta-Pforte noch immer geöffnet.
„Lauf.“
Es war eine Stimme ohne Gesicht, die sich aus seinem tiefsten Inneren meldete und ihm diesen simplen, eindeutigen Befehl gab. Schlagartig beruhigte sich seine Atmung und Frank erhob sich, um ohne zu zögern loszulaufen. Bevor er die Pforte passierte, kam er jedoch nicht umhin, noch einen Blick zurück zur Zelle zu werfen.
Sie war geschlossen.