Das klingt wirklich nicht schlecht; mal sehen, ob ich davon Gebrauch machen werde

Hat im Moment niemand eine neue Geschichte? Nun ja, ich hätte da einen weiteren Ausschnitt aus meiner Geschichte mit Samuel, wenn jemand möchte:

Erneut klapperte es, dann kam seine Frau mit einem Teller aus der Küche zurück, auf dem zwei Brote lagen, die recht appetitlich mit Fleisch und Salat belegt waren. Samuel spürte, wie sein Magen danach lechzte, aber er selbst war eher angewidert – wie von jeder Art menschlicher Nahrung –, und so winkte er rasch ab. »Nein, ich kann… ich meine, ich kann wirklich nicht…« Seine Stimme klang wie ein Reibeisen, doch ehe er sich räuspern konnte unterbrach ihn der Alte mit den Worten: »Unsinn! Du musst doch wieder zu Kräften kommen«, und seine Frau schob den Teller näher heran.
Samuel wollte nicht wirklich, und so drehte er den Kopf zur Seite, woraufhin das Gesicht der Alten einen recht verhärmten Ausdruck annahm. »Nun iss schon! Du musst doch erschöpft sein. Wer weiß, wie lange du schon durch den Wald gelaufen bist und nichts Vernünftiges Zuessen bekommen hast«, räumte sie ein, und da wurde Samuel schlagartig klar, dass sich seine Tarnung in Gefahr wähnte. Diese beiden Menschen wussten nicht, dass da ein übernatürliches Geschöpf auf ihrem Sofa lag; sie sahen nur seine äußere Hülle, den Körper eines Jugendlichen, der durch den tiefsten Wald spaziert war. Wie seltsam musste er ihnen erscheinen? Allein im Niemandsland? Um diese Uhrzeit? Sie konnten sich anhand seiner Kleidung und seines Zustands zusammenreimen, dass dies nicht sein erster Tag in der Wildnis war, und gewiss musste er kurz vor dem Hungertod stehen. Jedenfalls würde er das, wenn er ein echter Mensch wäre und seine Kraft nicht zusätzlich aus anderen Quellen ziehen könnte. Wenn er jetzt zuließ, dass sie stutzig wurden, würde er wohl im nächsten Krankenhaus landen, wo er wieder bei Null anfangen musste.
Zögerlich griff er nach einem der Brote. Er war diese Form der Nahrung nicht mehr gewohnt, hatte er bis dato sein menschliches Bedürfnis mit Wildbeeren, Pflanzen und manchmal nur bloßer Energiesynthese aus der Umgebung befriedigt, was seinen Körper am Leben gehalten, aber von Tag zu Tag dünner gemacht hatte, sodass nun die Rippen unter seiner Haut hervorstachen.
Äußerst zaghaft biss er hinein und kaute langsam, ehe er plötzlich einen äußerst angenehmen Geschmack auf der Zunge spürte, um so viel gehaltvoller als die Beeren und Blätter aus dem Wald. Ein Geschmack, wie er ihn seit Jahrzehnten nicht mehr verspürt hatte. Überrascht biss er noch einmal ab und kaute mit mehr Ruhe. Es schmeckte ihm tatsächlich.
»Na also!«, rief der Alte freudig und klopfte ihm sanft auf den Rücken. »So ist’ gut.« Er drängte Samuel, auch das zweite Brot zu verspeisen. Eine ungewohnte Belebung brandete durch seinen Körper, neue Energie strömte in seine Glieder.
Die Frau trug den Teller hinaus, und der Alte deckte ihn mit einer Wolldecke zu, ehe er seiner Neugier freien Lauf ließ und fragte: »Nun musst du mir aber erzählen, was du da draußen gemacht hast. Du bist doch wohl kein Ausreißer?« Doch die Art, wie er es sagte, ließ vermuten, dass er genau dies von ihm dachte.
Samuel wusste nicht, was er antworten sollte. Ihn beschäftigten sogleich wieder andere Gedanken, die sich um den Auftrag drehten, den er mit seinem verletzten Bein unmöglich zuende bringen konnte. Zähneknirschend machte er sich klar, dass er wohl erst wieder halbwegs genesen musste, ehe er an einen Schritt in diese Richtung denken konnte. Er wollte sich bereits an einer ausweichenden Antwort versuchen, aber der Alte hatte sich aus seinem Schweigen bereits eine eigene gebildet.
»Ein Ausreißer, also doch!« Er lächelte mitfühlend, dann strich er ihm über den Rücken, stand auf und ging zu seiner Frau in die Küche. »Ein Ausreißer, Anny. Ich vermute, er ist aus dem Waisenhaus geflüchtet«, hörte Samuel ihn sagen, und seine Stimme klang gedämpft durch die halboffene Tür.
»Wer nimmt’s den armen Kindern auch übel?«, erwiderte Anny verständig, dann fügte sie in einem Ton, der Samuel gefährlich nah an ein tiefstes Flehen kam: »Oh Greg, wir können ihn nicht wieder dorthin zurückbringen.«
»Das haben wir leider Gottesnamen nicht zu entscheiden, Anny. Wir können ihn auch nicht hier behalten.«
Ein seltsam abgehackter, aufbegehrender Laut war zu hören, wie ein hohes, empörtes »Oh«, dann entschied Anny: »Bis er gesund ist, wird er hier bleiben, solange kann ihn uns niemand wegnehmen.« Damit schien das Gespräch beendet, zumindest kam sie wieder zurück ins Wohnzimmer. Der Alte wartete im Türrahmen, einen unschlüssigen Ausdruck auf dem Gesicht, der sich noch nicht entschieden hatte, ob er Sorge oder Freude wiederspiegeln wollte.
Sorgfältig rückte sie die Decke zurecht, um sich zu vergewissern, dass sie auch jeden Fleck seines Körpers bedeckte. Für einen Augenblick war ihr Lächeln verschwunden, um einer nachdenklichen Miene zu weichen, dann aber kehrte es umso wärmer zurück. »Hoffentlich schläfst du heute Nacht besser als im Wald. Du brauchst jetzt viel Ruhe.« Mit diesen Worten löschte sie die Lampe, und Samuel blieb in angenehmem Dämmerschein zurück.


Der Morgen erwartete Samuel mit einem herzhaften Frühstück aus weiteren Broten und glasierten Pfannkuchen. Er hatte tatsächlich gut geschlafen – wohl zum aller ersten Mal, seit er in den menschlichen Körper geschlüpft war. Nicht einmal müde fühlte er sich. Wirklich, nicht im Geringsten.
Unschlüssig richtete er sich im Polster auf. Sein Bein war über Nacht besser geworden. Der Schmerz hatte nachgelassen, und da er sich beinahe uneingeschränkt bewegen konnte schloss er, dass nichts gebrochen war. Auch fühlte er sich keineswegs mehr so elend wie am Vortag. Er würde gehen, noch in dieser Nacht, um den Auftrag zuende zu bringen.
»Komm, iss noch etwas!« Es war schon der fünfte Pfannkuchen, den die Alte ihm aufzwängte, und auch, wenn es unvergleichlich gut schmeckte, glaubte Samuel, dass er seinen Mageninhalt gleich quer über den Tisch befördern würde. »Nein, nein danke…«, brachte er hervor, ehe er ein Aufstoßen unterdrückte und ihm die Schamesröte ins Gesicht stieg. Greg, der im Sessel gegenüber Zeitung las, lächelte belustigt, während Samuel gegen einen weiteren Aufstoß ankämpfte.
Anny seufzte, dann räumte sie den Tisch ab, der, das bemerkte er nun, nur für ihn gedeckt worden war. Herrgott… die gaben sich wirklich Mühe. Und das um einen Fremden willen. Er erinnerte sich nicht, jemals derart liebevoll behandelt worden zu sein, außer von ihr. Von Bethany. Aber das war eine andere Geschichte.
Greg ließ die Zeitung sinken und sah Samuel über den Rand seiner Stahlbrille an, so vertraut, als ob er sein Enkel wäre – was er durchaus hätte sein können, wenn man nur vom äußeren Schein her urteilte. Tatsächlich aber hielt Samuel es für wahrscheinlich, dass sie beide im selben Jahrzehnt geboren wurden. Unbehaglich wich er ein Stück zurück.
»Du bist also geflüchtet«, äußerte Greg, als würde er laut überlegen, dann faltete er die Zeitung über dem Schoß. »Was sollen wir nur mit dir machen…«
Es klang weniger vorwurfsvoll, sondern eher so, als denke er noch immer über seine Optionen nach und wäge dabei ab, was das Beste für ihn wäre. Samuel konnte hören, wie in seinen Worten der innige, schwer zu deutende Wunsch mitschwang, ihn um alles in der Welt bei sich zu behalten.
Fast hätte er sich bei dem Gedanken verschluckt. Ihre Gastfreundschaft in Ehren, aber das fehlte gerade noch. Etwas zu eilig erklärte er daher: »Oh… Um mich müssen Sie sich nicht die geringsten Sorgen machen, wirklich, keineswegs. Ich komme sehr gut allein zurecht.« Erst im Nachhinein fiel ihm auf, wie erschreckend durchschaubar diese Aussage aus seinem Mund geklungen hatte, und so sah er sich bemüßigt, mit mehr Nachdruck hinzuzufügen: »Ihre Gedanken um mich sind unnötig, das kann ich Ihnen versichern«, und als er merkte, dass seine Versicherung etwas abrupt ihren Schluss fand, endete er mit einem linkischen »Sir.«
Der Alte blickte ihm mit einem Ausdruck tiefster Überraschung entgegen, dann nahm er die Brille ab und begann, lauthals zu lachen. »Anny, wann hast du je erlebt, dass ein Jugendlicher noch Sir sagt?«
Zunächst konnte Samuel nicht anders, als ihn verwundert anzustarren. Er war verwirrt von seiner Reaktion, dann jedoch geradezu verunsichert: Hatte er einen taktischen Fehler begangen? Er hielt Sir für eine angemessene Bezeichnung. Aber andererseits… Vielleicht sprachen Jugendliche gar nicht so förmlich. Was dieses Thema anbelangte, waren seine Erfahrungen vollständig veraltet. Er hatte seit seinem Lebenswandel viel zu selten etwas mit Jugendlichen zu tun gehabt – von den Zeiten, in denen er sich wie jetzt ihrer Körper bemächtigte, einmal abgesehen – um wirklich über ihre Anschauungen im Bilde zu sein. Für die Dauer eines Lidschlags schnürte sich ihm die Kehle zu, da er fürchtete, sich verraten zu haben.
Doch der Alte zerschlug seine Ängste. »Sammy, für einen Ausreißer hast du beinahe viel zu gute Manieren. Bist du sicher, dass du nicht aus einer anständigen Familie kommst? Sir…« Wieder lachte er kopfschüttelnd, während Anny aus der Küche zurückkam und ihren Mann in gespielter Empörung zurechtwies. »Natürlich hat er gute Manieren, Greg! Du musst ihn dir doch nur ansehen; er hat sogar Bedenken dabei, kräftig zuzulangen. Dabei musst du doch wieder zu Kräften kommen.«
Während sie an ihm vorbeilief, warf sie ihm ein so aufrichtiges, unbefangenes Lächeln zu, dass Samuel peinlich berührt das Gesicht abwandte. Es dauerte einen Moment, ehe er den widerstreitenden Gefühlen Einhalt gebieten konnte, und dann wich die Betretenheit tiefer Unsicherheit. Schämte er sich tatsächlich? Er wusste es nicht genau. Unwillkürlich wurde seine Bauchregion von einem sich ausbreitenden Kribbeln vereinnahmt, das er eher interessant als schön fand. Und doch unterschied es sich so eindeutig von dem, was er gewohnt war, dass er die Empfindung zuließ, und nach und nach verdichtete sich das Gefühl zu einer Quelle schlichter Euphorie. Er konnte sich kaum etwas Vergleichbares vorstellen. Unfassbar: Er hatte etwas Schönes im Körper eines Menschen verspürt.
Die Frau setzte sich auf einen Stuhl an den Tisch, und während sie beiläufig in einer alten Illustrierten blätterte, wurde Samuels Blick von einem prachtvoll eingebundenen Buch angezogen, das auf der Ablage unter dem Tisch achtlos von allerlei Krempel erdrückt wurde. Die Ecken waren zerrissen und die Kanten abgenutzt, doch obwohl durch diese Anzeichen auf einen häufigen Gebrauch zu schließen war, hatte sich bereits eine dicke Staubschicht auf der Oberseite abgesetzt. Neugier packte Samuel, und als er sie einen Moment lang erfolglos niederzukämpfen versucht hatte, holte er den Band hervor. Vorsichtig befreite er das Buch vom Dreck und unterdrückte einen Aufschrei, als seine Finger die Seiten berührten und wie Nesselgift zu brennen begannen. Unschlüssig griff er mit der Hand um und hielt es am Einband fest, dann starrte er mit glasigem Blick auf die Vorderseite. Es handelte sich um die Heilige Schrift.
»Oh, du hast unsere Bibel gefunden«, entfuhr es Anny, doch es klang gepresst, als wäre es ihr nicht unrecht gewesen, wenn das Buch weiterhin unter Unrat versteckt geblieben wäre. Nun ließ auch Greg die Zeitung sinken.
»Sind Sie gläubig?«, fragte Samuel, denn diese Frage konnte er sich einfach nicht verkneifen.
Anny wollte zu einer Antwort ansetzen, doch Greg kam ihr zuvor. »Nein«, erwiderte er barsch, was überhaupt nicht zu seiner so freundlichen Art passen wollte, und Samuel erschrak beinahe über die Härte in seiner Stimme. Anny warf ihrem Mann einen vorwurfsvollen Blick zu, dann sagte sie niedergeschlagen: »Nein, mein Lieber, wir sind nicht gläubig. Nicht mehr.«
»Was ist denn passiert?«, hakte er vorsichtig nach, doch Anny hüllte sich in Schweigen. Ihr Gesicht war ausdruckslos, als sie sich erhob und mit hängenden Schultern zurück in die Küche ging. Samuel verspürte einen Anflug unschicklicher Neugier, doch sein Taktgefühl verbot jegliche Versuche, weiter in diese Privatsphäre vorzudringen, mehr noch als die strikte Beschränkung seines Dienstes. Er war sich sicher, dass es sogar dann unrecht gewesen wäre, wenn es nicht außerhalb seiner Pflicht gelegen hätte.


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LG Cas