20:21 Uhr
Hauptbrücke, Invisible Hand
„Fisher“, erklang die kratzige Stimme des gelbschuppigen Drells, der sich in den letzten Augenblicken nur noch den Konsolen vor und neben ihm widmete und Jacob dadurch eine unangenehme Wartezeit ertragen ließ, in der sich viel zu viele Möglichkeiten boten, über das nachzudenken, was außerhalb der Hauptbrücke geschah. Wie schlugen sich die anderen Gruppen? Wie viele der Söldner hatten bereits ihr Leben auf diesem gottverdammten Schlachtfeld gelassen? Wie viele der Teilmissionen konnten zu einem erfolgreichen Ende geführt werden? Und wie ging es Kate? War sie überhaupt noch am Leben? All diese unbeantworteten Fragen, diese Ungewissheit, nagten am 25-jährigen. Es war eben wieder einer dieser Momente, in denen er die Zeit bekam, nachzudenken.
„Passen Sie auf, dass keiner die Hauptbrücke betritt. Ich brauche absolute Ruhe.“ Ein nicht zu verachtender Hauch von Unbehagen machte sich im Körper des Südafrikaners breit. In der Stimme des Drells schwang ein unheilvoller, misstrauenswürdiger Unterton mit, den Jacob jedoch absolut nicht einordnen konnte. Er wandte den nachdenklichen Blick, der eher unterbewusst die Raumschlacht verfolgte, die draußen im All – und doch gar nicht so weit weg - geführt wurde, ab und machte einige Schritte auf das Schott zu, dessen frische Biotik-Spuren nicht unbedingt ein Gefühl von Sicherheit zulassen wollten. Unbeeindruckt von den sprühenden Funken aus der aufgerissenen Decke, wich Jacob eben jenen mit einem schnellen Schritt zur Seite aus und lehnte sich wenige Schritte später an eine der nicht länger funktionstüchtigen Konsolen, das eigene Sturmgewehr weiterhin locker in einer Hand haltend. Einige Zeit achtete Jacob noch gezielt auf alles, was möglicherweise die Hauptbrücke stürmen kommen würde. Doch weder die blauen Augen, noch das gut geschulte Gehör lösten einen inneren Alarm aus. Einige Meter hinter Fisher arbeitete Aric an… an was-auch-immer er eben arbeitete. Es war naiv vom Ex-Marine, zu glauben, der Drell würde ihm tatsächlich erzählen, wie es weitergehen würde. Aber er kümmerte sich nicht weiter darum. Stattdessen bekam er erneut die Möglichkeit, sich in seinen Gedanken zu verlieren.
Dieses Mal lenkten ihn seine Gedanken in eine andere Richtung. Zum ersten Mal seit langer Zeit wurde Jacob Fisher plötzlich wieder klar, wie es eigentlich um ihn bestellt war. Der Kampfrausch, das Adrenalin, die Konzentration lenkten seine Aufmerksamkeit immer wieder auf etwas Anderes. Nie jedoch auf ihn selbst. Bis jetzt. Jetzt wurde ihm wieder klar, dass er in Zukunft kroganischen Tritten ausweichen würde. Jetzt wurde ihm wieder klar, dass der anhaltende Lärm einer Schlacht schrill piepende Spuren hinterließ. Jetzt wurde ihm wieder klar, dass die trockene, staubige Luft und die Hitze des Gefechts eine ebenso staubtrockene und brennende Narbe in der Kehle hinterließen. Es bestand kein Zweifel mehr: Jacob befand sich auf einer Gratwanderung zwischen Leben und Tod. Sein Körper war geschwächt, angeschlagen, wahrscheinlich sogar nahezu ausgelaugt. Sein Geist war zwar noch wach und durchaus aufnahmefähig, aber wie lange würde das noch so bleiben? Jacob wusste: Die Schlacht müsse so bald wie möglich enden...
Irgendwann, Jacob hatte aufgrund des verlorenen Zeitgefühls keine Ahnung mehr, wie viel Zeit vergangen war, meldete Aric sich wieder zu Wort. Die kratzige Stimme wirkte noch penetranter, der unbehagliche Unterton von vorhin wirkte noch deutlicher. „Aric Agapios hier. Initiiere Operation Susceptio...rien ne va plus.“ Operation… was? Jacob stockte. Sein Schullatein war wortwörtlich nicht vorhanden. Dafür beherrschte er aber noch immer ein recht passables Französisch. Und jeder, der sich einmal mit dieser Sprache auseinandersetzte, stieß auf die anschließende Phrase. Rien ne va plus… Nichts geht mehr. Moment. Aber, das ergibt keinen Sinn. Wir haben die Brücke. Die Schlacht ist vorbei. Finito. Feierabend. Oder auch nicht.
Jacob wandte sich – in voller Gewissheit, dass in den nächsten Sekunden niemand durch das Schott hechten würde – wieder zu Aric. Doch der war noch immer an seine Konsolen fixiert. Das altbekannte Misstrauen war wieder da. Und wieder wurde es von Aric Agapios persönlich geweckt. Doch der schien noch lange nicht fertig. Es dauerte zwar einige Augenblicke – Augenblicke, die Jacob nutzte, sich mit vorsichtigen Schritten anzunähern – bis er das Wort wieder erhob, doch was er nun aussprach, stellte alles, was er bisher in Jacobs Gegenwart sagte oder auch tat, in den Schatten.
Mehrmals ging Jacob die Worte des Drells im Kopf durch, doch es änderte sich nichts an den unwiderlegbaren Fakten. „Wow, wowow hey. Das, das ist Verrat!“, klagte Fisher Aric an, als würde dieser das nicht selber wissen. „Sie“, Jacob geriet erneut ins Stocken, realisierte nur langsam, welche Folgen diese Aussagen haben würden. „Sie wollen sie also alle töten lassen? Alle, die bei dieser verdammten Scheißaktion hier geholfen haben?“ Die aufkeimende Wut stand Jacob förmlich ins Gesicht geschrieben. Mit ein paar wenigen Worten hatte ein Mann einen Massenmord veranlasst. Und Jacob… Jacob hatte diesem einen Mann persönlich geholfen, überhaupt bis dahin zu kommen. Jeder einzelne Tropfen Blut eines Toten, der durch diesen Ausruf getötet, nein, ermordet wurde, würde auch an seinen Händen kleben.
Es dauerte zwar einen Augenblick, aber Jacob fing sich wieder – vorerst. Mit gesenkter Stimme und weniger wild gestikulierend fuhr er fort. „Susceptio. Was bedeutet das? Ist das der Grund, warum diese Leute, Ihre Verbündeten, sterben müssen?“
20:25 Uhr